Güstrow: Hol dein Geld raus, Digger

Im März 2019 haben wir wieder zwei Schulen mit unserem Ethiktheater unsicher gemacht. Und zwar mit der Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Im Religionsunterricht ging es um Diakonie, also um helfendes Handeln für Menschen in Not. Die Schüler hatten sich dazu ein bisschen mit der Situation von Straßenkindern beschäftigt. Wie viele es davon in Deutschland gibt, hat auch uns erschreckt. Das war uns Anlass genug, die ethische „Dauerbrenner“-Story vom Barmherzigen Samariter mit der Situation zweier Straßenkinder der heutigen Zeit zu verbinden. Und zwar mit Fabian, dem Sohn eines alkoholkranken, arbeitslosen Vaters und Justus Cornelius, aka JC, der nur ganz zufällig die gleichen Initialen hat wie der Sohn dieses anderen Vaters. Justus Cornelius spielt Cello und wird von seinem Vater sonntags zum Polospielen nach Dithmarschen gefahren, wo er allerdings nur auf der Ersatzbank sitzt. Das missfällt seinen Eltern, auch wenn sie ihn nicht anbrüllen, wie Fabians Vater das tut, sondern dies in wohlklingende Worte packen. JC stinkt das aber genauso, als wenn sein Vater brüllen und saufen würde.

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Justus Cornelius, diesen Ton haben wir dir nicht beigebracht. (c) Katharina Gladisch

Er haut ab von zuhause und wird auf der Straße als erstes verprügelt und von Fabian abgezockt. Aber die beiden bleiben trotzdem aneinander hängen und schlagen sich gemeinsam auf der Straße durch – mit mehr oder minder zwielichtigen Mitteln und mit mehr oder minder großen Konflikten untereinander.

Welche das sind, warum die beiden auch moralisch verwerfliche Sachen machen und ob diese Sachen eigentlich so verwerflich sind, darüber kamen wir schnell mit den Schülern und Schülerinnen ins Gespräch.

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Was denkt ihr dazu, wenn Menschen betteln? (c) Katharina Gladisch

Was, wenn die Gutmütigkeit eines Passanten ausgenutzt wird und die Situation eskaliert?

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Ey, der will die Polizei holen. Das ist mir jetzt echt zu krass! (c) Katharina Gladisch

Hier konnten die Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen beraten, was zu tun ist, wenn eine Situation zwischen Menschen eskaliert. Jede/r hatte die Aufgabe sich in eine Figur hineinzuversetzen und deren Handlungsmöglichkeiten durchzuspielen. Dass viele Situationen auf den ersten Blick moralisch gesehen ziemlich klar aussehen, wurde hier schnell brüchig, denn durch den Perspektivwechsel wurde das vorschnelle Urteil ausgebremst. Es ging zuerst einmal darum, die jeweilige Logik des Handelns des einzelnen Menschen zu verstehen. Wenn dann sowohl Fabian als auch Justus Cornelius als auch der gutmütige Passant in ihren Handlungsmotiven und deren Hintergründen erkannt werden, ist schon mal viel gewonnen. Die ethische Orientierung wächst dann auf dem Boden von Einsicht in die Herzen, Köpfe und die Lebenssituationen von Menschen. Und vor allem in Verbindung mit eigenen Lebenssituationen. So brachten einige Schüler und Schülerinnen auch sozialkritische Gedanken zu ihrer eigenen Lebenswelt auf: z.B. zur strukturellen Benachteiligung von Menschen und Familien mit geringem  Einkommen. Die fiktive Welt der Geschichte möglichst nah an die reale Welt der Schüler und Schülerinnen heranzuholen und sie in diese Welt hineinzuholen, das ist der Ansatzpunkt von Ethiktheater. In der fiktiven Welt der Geschichte kann ethisches Handeln frei von Konsequenzen ausprobiert werden. Und dennoch bleiben die Vorschläge des Publikums nicht ohne Resonanz. Denn man kann am Schauspieler sehen und spüren, was die Vorschläge bei ihm so auslösen. Dass Gedankenspiele freien Lauf haben, Emotionen spürbar im Raum sind und moralisches Handeln hier im „trial and error“-Verfahren ausprobiert werden können, das ist die Stärke vom Ethiktheater.

Ethiktheater ist ganz ernsthaft an Wahrnehmung, Diskussion und Denk- und Handlungsversuchen interessiert. Und Ethiktheater will motivieren durch Kreativität, Unterhaltsamkeit und Spiel.

Wir waren mit dem Ethiktheaterprojekt diesmal in insgesamt vier neunten Klassen am John-Brinckman-Gymnasium und der Thomas-Müntzer-Gesamtschule in Güstrow. Gespielt haben Tjark Kaukewitsch als Justus Cornelius, Victor Sudmann als Fabian und Juri Grascht als zwei Väter, als Passant und als Sozialarbeiter in einer Notunterkunft. Moderiert hat Katharina Gladisch. Wir danken der Stiftung Kirche mit Anderen in Mecklenburg für die freundliche finanzielle Unterstützung, der Domgemeinde Güstrow für die materiellen und logistischen Ressourcen sowie den beiden Schulen für ihre Kooperation.